„Dem Reich Gottes entgegen“

Warten und Pressieren

Rolf Lehmann

1. Mit uns muss Gott hinein in die Welt.

Des Menschen Sohn wird kommen, des freuen wir uns all;
vereint mit allen Frommen und mit der Sel’gen Zahl
sind wird darauf gerichtet, dass bald der Heiland naht,
da sich’s auf Erden lichtet in fühlbar großer Gnad.
(EG 558, Vers 1)

Doch will die Zeit uns lähmen, man spottet unser gar,
und viele auch sich schämen an dem, was fest und klar.
Da gilt es fest zu glauben, zu wachen allezeit,
dass niemand mög uns rauben der Hoffnung Freudigkeit.
(EG 558, Vers 3)

So wache denn, o Seele, und schlummre ja nicht ein,
dass es dir dann nicht fehle, wann bricht die Zeit herein,
die Zeit der großen Gnaden für alle Kreatur,
die, jammervoll beladen, kaum ahnt der Freiheit Spur.
(EG 558, Vers 4)

2. Wir haben einen alten Speisesaal. Als man da heraus sollte, haben sie „Ach“ und „Weh“ geschrieen. Warum? Weil mein Vater drin saß! Solche Dinge werden uns göttlich, unser ganzes Leben gewöhnt sich an Lokalitäten oder gewisse Formalitäten, die werden uns heilig.
Oh, könnte ich doch manchmal ausbrechen in dem, was in mir wütet gegen diese Art der Gesellschaft, wo sich immer etwas heranbilden will zu einem Idol. An uns muss etwas sterben, immer wieder, bis der ganze Mensch in Christus gestorben ist.
Auch die Gesellschaft muss sterben. Alles Verehrte auf Erden muss sterben.
Diesen Zorn wünsche ich euch allen. Wer diesen Zorn nicht hat, der hat auch die Liebe zu den Menschen nicht.

3. Ich kann zwar nicht als Arbeiter sprechen, verfolge aber die Arbeiterbewegung mit großem Interesse und stehe den Bestrebungen der Arbeiter durchaus sympathisch gegenüber. Ich halte es für meine Pflicht, nicht länger zurückzuhalten, sondern an die Öffentlichkeit zu gehen.
Das Reich Gottes ist eine neue Gesellschaftsform, die gefunden werden muss, eine neue Lebensart. Jesus packt von unten an. Warum packt er’s da drunten? Ja, da hat er die Wurzel. Denn diese Habsucht, diese Eigentumswut, diese Selbstsucht – darin liegt die Sünde der Welt, darin liegt alle Tyrannei, alle Grausamkeit, aller Mord. Darum packt’s Jesus ganz unten. Heute sind die Christen so habsüchtig; alles wird verkauft und zu Geld gemacht.
Jesus will die Welt retten, und Gott will ihm helfen. Er will auch uns helfen, die wir diesen Jesuswillen im Herzen tragen. Stellt euch in diesen Jesus-Sinn. Dann wird Gott seinen Willen an uns tun. Nur Gott und wir! Und dann Gott durch uns in die Welt!

4. Ich habe ja überhaupt nichts mehr frei als die Luft. Die Landwirtschaft geht deswegen zugrund, weil die Erde nicht mehr frei ist. Man sollte das, was Gott geschaffen hat, nicht zu Geld machen. Wald und Feld und Wasser, das hat Gott gemacht, das darf nicht mein sein, das ist Gottes. In diesen Verhältnissen des Menschen zur Erde liegt das Reich Gottes. Wollen die Menschen die Erde verstehen, so müssen sie sich selbst verstehen. Die Menschen müssen verstehen, dass sie Pflichten haben, nicht nur Rechte. Wenn das Reich Gottes kommt, so dürft ihr nicht alles zu Geld machen. Freut euch des Kampfes; wenn’s rumort, geht’s vorwärts.

5. Es regt sich ungeheuer viel. Die sozialistischen Bewegungen. Auch muss die Kirche mit manchem aufhören. Schon dieser Unterschied zwischen Geistlichen und Laien muss aufhören; `s ist ein Unsinn, der in die Welt hineingekommen ist. Herrschen kann jedes Rindvieh – aber dienen! Da brauch ich Kraft. Die evangelische Kirche würde aufblühen wie eine Rose, wenn man auf dem Boden Christi schaffte.

6. Ich denke an eine völlig neue Gesellschaft. Schon frühe fand ich, dass für mich eine Religion keinen Wert hat, wenn sie nicht die Gesellschaft ändert, wenn sie mir nicht schon das Glück auf Erden verschafft.
So habe ich meine Bibel, so habe ich meinen Christus verstanden. Und darum fühle ich mich verwandt mit den Leuten, denen man vorwirft, dass sie einer Utopie nachjagen.
Ich verbinde mich mit der Sehnsucht nach einer neuen Zeit – nicht mit der Partei. Der Wille Jesu allein gilt, dass die Welt umgestürzt werde.
Wir wollen eine neue Gesellschaft gründen. Auch Christus will eine Menschheit, in welcher Gerechtigkeit und Wahrheit, Liebe und Leben alles durchdringt.
Im Geiste Christi verbinde ich mich mit diesem Streben.

7. Jahrzehntelang habe ich geseufzt und gerufen: „Ach Gott, du hast mich doch in die Welt geschickt, und nun soll ich nur auf evangelisch-kirchlichem Boden mein Leben verbringen!“ Da auf einmal packte mich Gott fest am Kragen und warf mich mit aller Gewalt – und ohne dass ich mich aus seiner Hand losmachen konnte – an die Türe der Sozialdemokraten. Plötzlich sprang die Tür auf, und als ich mich umsah, war ich in einer neuen Welt. Und wer die Welt einmal gesehen hat, kann nicht mehr zurück. Hier wird mein Herz international gestillt, endlich, endlich! Jetzt kann ich zu allen Menschen gehen, gleich welcher Nation und welcher Religion. Ich kann überall und für alle predigen. Und das muss ich, denn mein Christus ist für alle Menschen da.

8. Wir wollen nach innen freie Menschen sein, nach außen wollen wir Kämpfer sein, die sich der Elenden und der Armen annehmen nicht bloß aus Wohltätigkeitssinn – denn die Wohltätigkeit kann nicht helfen –, sondern aus Gerechtigkeitssinn für die Armen, für die Unterdrückten, auch für die Fremden.

9. Unsere christlichen Einrichtungen werden veralten. Durch Christus ist eine Entwicklung gelegt, die vorwärts treibt, damit der vollkommene Gotteswille zum Durchbruch kommt. Vielleicht sind wir heute in der Zeit, da wir einen großen Ruck vorwärts tun können – nicht nur zur Erfüllung der Verheißungen in der Bibel, sondern überhaupt des Sehnens in Millionen Menschen, die unter Gottes Einfluss vorwärtsdrängen: „Es muss besser werden.“
Lerne, nach deiner Eigenart richtig leben, bleibe dir selbst treu! Selbstbewusstsein in der rechten Weise ist Gottesbewusstsein.

10. Das Neue, was Christus wollte und was ich nun auch will, ist, den Menschen zu sagen: „Lass das Jenseitige!“ Darüber hat man vergessen, sich über das Diesseits zu besinnen.
Jetzt will Gott, daß hier im Diesseits geschafft werde. Hier auf Erden sollen wir einen Himmel schaffen! Will Gott, daß wir etwas vom Jenseits wissen, wird er es uns offenbaren.
Hütet euch davor, Christus in den Wolken zu suchen, im Jenseits zu suchen!
Nein, suche ihn in dir, da, wo du eine gute Regung, ein hohes Empfinden entdeckst! Und wenn du‘s entdeckst, dann denke darüber nach! Knüpfe daran deine Handlungen! Und sei dankbar, daß du etwas von „droben“ von Christus entdecken durftest!

11. Was in mir lebt von Christus, was ich zeitlebens von einem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit auf Erden glaube und erstrebe, drückt sich auch in dieser meiner Verbindung mit der großen, um ihr Leben ringenden Arbeiterklasse aus.

12. Im Protestantismus gilt das Prinzip der Entwicklung, des Wachstums, des Lebens. Sie meine Herren vom Zentrum können nicht vorwärts, und wir, sage ich mit ebenso großer Entschiedenheit, können nicht rückwärts. Wir müssen vorwärts.

13. Wenn ein Mensch meint, das, worin er jetzt steht, müsse so bleiben, so ist das wie eine Verleugnung Gottes. Es bleibt nichts, wie es ist; Gott ist lebendig.

14. Man braucht keinen dogmatischen Glauben an Jesus, den Sohn Gottes – man braucht nur zu folgen. Mit frommen Reden und mit dem Suchen des Eigenen kommt man nicht durch. Dabei bleiben wir stecken.

15. Dein Reich komme! Es muss zuerst in irgendwelcher Weise dem Reiche Gottes bei uns gleichsam Quartier gemacht werden, ehe man so ohne weiteres mit Bittschriften kommen kann, nach welchen Gott Veränderungen in der diesseitigen Welt uns zulieb machen soll.
Warum aber die Jahrhunderte der Christenheit trotz des Evangeliums so scheußlich geworden sind, so fürchterlich mit Blutvergießen bedeckt, dass selbst die frömmsten Menschen zu Mördern und Verbrechern geworden sind an den anderen Menschen – die Schuld ist, dass man diesem Jesus nicht gefolgt ist, mit dem die neue Entwicklung begonnen hat.

16. Mit dem Glauben kann man arg dumm werden, und die meisten Leute leider liefern fast den Beweis, dass man mit dem Glauben dumm wird. Wir Christen müssen uns mehr bilden als andere Leute. Lest nicht so viel christliche Andachtsbücher, die einen immer dümmer machen! Lest etwas, wodurch man in die heutige Zeit hineinkommt, in das, was man heute wissen muss, wenn man einen modernen … Standpunkt einnehmen und finden will.

17. Da hält man etwas fest durch Jahrhunderte und Jahrtausende, und je älter es wird, desto heiliger. Eine uralte Kirche ist viel heiliger als eine neue; ein uraltes Kruzifix ist viel interessanter als ein neues; eine Kanzel, auf der einmal einer gepredigt hat, der einen Namen gehabt hat, ist kolossal wichtig! Es kommt doch im Reich Gottes gar nicht auf das an – ich sage die Wahrheit, und ich erkläre damit den Krieg aller Mode im Reich Gottes, aller Gewöhnung. Oder wer will mir‘s leugnen, wer will mir widersprechen?

18. Ich weiß wohl, alles, was gläubig heißt – Pietisten, Katholiken und Protestanten, widerstreitet mir; aber lest doch die Bibel! Zu was habt ihr sie denn? – Schmeißt sie doch ins Feuer, wenn ihr nichts danach fragt! … „Heraus!“ heißt’s durch die ganze Geschichte des Reiches Gottes, immer mussten sie heraus. … Heute darf das Christentum unmöglich sitzen bleiben. Heute muss Neues werden. Heute müssen wir in neuer Weise in die Welt hinein. Heute heißt’s: „Altes verlassen. Vorwärts! Vorwärts! Wenn ihr stehen bleibt, seid ihr verloren!“ Das ist der letzte Schrei des Apostels Johannes in der Apokalypse. Die Leute bedauern, dass es nicht ist wie früher. Wir Menschen haben so einen Gewohnheitsdrang – was uns einmal angenehm geworden ist, das – meinen wir – müsse in alle Ewigkeit fortgehen. Das ist gerade, wie wenn der Bauer, wenn der Same aufgeht, nun wünschen wollte, es möchte ewig bei dieser schönen grünen Steppe bleiben. Aber der Bauer wartet ruhig, bis alles gelb wird, bis sich alles verändert. Er weiß, es geht zur Ernte hin, und er ist froh, wenn das Grün der Halme vergeht und sie gelb werden und schließlich die Zeit kommt, da man die Sichel anlegen kann.

19. Es kommen die Fortschritte, und insofern kommt allerdings immer und immer eine Art Untergang. Das Alte, das seinen Dienst getan hat, geht unter, geht vorbei. Das Frühere, das uns gefreut hat, muss neuem Platz machen, und unsere Freude muss einen Impuls bekommen in neuen Verhältnissen.

20. Sind wir Boten Gottes, … so dürfen wir Heil verkündigen, Frieden predigen, Gutes reden, und zwar unter allen Menschen, Hohen und Niederen, Reichen und Armen, Gerechten und Verkommenen. Wem das aufgetragen ist, der kennt nicht mehr das Predigen des Elends, der Verkehrtheit, der Gottlosigkeit. Das alles wird ja schon gepredigt; das predigt die ganze Welt, … jedes einzelne Menschenleben, … jedes Herz, welches seufzt über seine Unvollkommenheit und Sünde, über die Unmöglichkeit, Gutes zu tun. … Jesus (aber) verkündigt … Deine Sünden sind dir vergeben; sei getrost, die Gottlosigkeit, die Schlechtigkeit, die um dich her ist und auch in dir Wurzel geschlagen … und dein Leben verkümmert hat, darf auf die Dauer nicht schaden. … So müssen nun auch wir Gutes predigen, Heil verkündigen. Predigen wir aber Gutes, so müssen wir den Menschen auch Gutes zutrauen.

21. Glaubst du an Gottes Reich? Dann musst du unruhig werden.
Wir protestieren gegen diese Welt, die nicht von Gott ist; wir protestieren gegen alles weltliche Machthaben. Wir stehen im Kampf wider das finstere Wesen des Todes und der Hölle. Wir stehen an der Seite Jesu …, der auch auf Erden Kämpfer … und Sieger werden wird.

22. Heute scheint alles in die Brüche zu gehen. Die Christen verstehen sich nicht mehr – die Weltgeschichte hat sie betäubt; die einen sind französisch, die andern englisch, die dritten russisch, die vierten deutsch, und jeder will recht haben … Aber auf diesem Boden hat kein Mensch recht. Auf unserem nationalen Bewusstsein können wir kein Volk Gottes werden, es muss etwas Tieferes daliegen und die Empfindung, dass Gott mit uns in … in einem Bund steht. Das ist Sicherheit und nichts anderes – keine Schlachten, keine Kanonen, keine Siege –, das gibt keine eigentliche Erhebung der Menschheit, das geht vorüber; aber das, was Gott mit uns hat, … das bleibt.

23. Ein neuer Himmel, eine neue Erde, das ist doch etwas anderes, als wenn man vom Weltuntergang redet.
Wir können für alle Welt das Gute hoffen; wir können schauen, dass Gottes Name geheiligt wird, dass sein Reich kommt und sein Wille geschieht auf Erden wie im Himmel. Das muss erreicht werden auf Erden – auf Erden! Auf Erden! Wir können nicht immer bloß auf die Ewigkeit hoffen. Die Erscheinung Jesu Christi gibt uns Mut zu sagen: Auf Erden wird euer Jammer ein Ende nehmen! Auf Erden wird die Sünde ein Ende nehmen! Auf Erden wird Gott Gerechtigkeit offenbaren, die ihm wohlgefällt. Auf Erden gibt er dir seine Gaben und seine Kräfte. Auf Erden sollst du fröhlich werden.

24. Gerecht sein heißt: Für sich und für die andern nicht verzagen, sondern das Beste hoffen.
Es besteht ein Unterschied zwischen dem Glauben, der einfach nur so Gott annimmt, … und dem Glauben, der wirklich etwas erwartet. Und ich möchte euch … ermuntern: Erwartet doch etwas!


Zitatesammlung

Zitate-C.-Blumhardt-Zusammenstellung-Lehmann.pdf

Anmerkung

Die Zitate stammen aus folgenden Ausgaben:

  • Johannes Harder: Christoph Blumhardt. Ansprachen, Predigten, Reden, Briefe, 1865-1917, Band 1-3, Neukirchen-Vluyn 1978
  • Robert Lejeune: Christoph Blumhardt. Eine Auswahl aus seinen Predigten, Andachten und Schriften. Band 1-4, Erlenbach-Zürich und Leipzig, 1925-1932